Stärken in Balance leben

Deine Energie folgt der Aufmerksamkeit. Die Frage ist: Worauf möchtest du diese richten?

Oft wird unsere Aufmerksamkeit angezogen von Dingen, die nicht gut laufen. In den Nachrichten zum Beispiel, beim Tratschen mit FreundInnen, bei der Rückschau in Projekten und auch im Coaching.

Wir richten unsere Aufmerksamkeit auf das Zuviel, das Zuwenig, auf das, was falsch läuft, was nicht genug ist. Was wäre, wenn wir in einem dieser Momente kurz innehalten könnten und überlegten:

“Liegt dem, was an der Oberfläche negativ erscheint, vielleicht etwas Gutes zugrunde?”

Ich mag die Haltung, dass jeder Mensch im Kern gut ist, dass jeder Mensch seine ganz eigenen Ressourcen zur Verfügung hat. Dies ist auch die Haltung unseres Lösungsorientierten Ansatzes im Coaching. Schon Insoo Kim Berg sagte immer:

“Nimm immer erst den Menschen in seinen Ressourcen wahr.”

Ein einfacher Satz, und doch steht so viel dahinter. Es ist eine bewusste Entscheidung, die Stärken von Menschen in den Mittelpunkt zu stellen und zu kultivieren, und nicht die Schwächen. Es lohnt sich also, hinzuschauen und das Gute in jedem Menschen zu suchen – in uns selbst und in anderen.

Balance kann aus Schwächen Stärken machen

“Ja, aber es ist doch nicht alles gut an mir und an den anderen. Von Schönreden werden Schwächen nicht plötzlich zu Stärken”, wird dein Verstand vielleicht dagegenhalten.

Hier kommt das Konzept der Balance ins Spiel. Nimmt man zu viel oder zu wenig von etwas, kippt es und wird ins Negative gekehrt.

Gießen wir eine Pflanze zu viel, verfault sie an ihren Wurzeln. Gießen wir sie zu wenig, vertrocknet sie. Wasser – richtig dosiert – ist das Lebenselixier der Pflanze, das sie braucht, um zu wachsen.

Im Coaching brauchen wir jetzt zwei Ideen, damit wir aus einem Zuviel oder Zuwenig eine Balance herstellen können.

Idee 1: Jedes Zuviel oder Zuwenig hat eine versteckte Stärke im Hintergrund.

Beispiel 1: Ich bin zu nett.

Ein häufiger Aufhänger im Coaching ist die Aussage:

“Ich bin als Führungskraft zu nett.”

Deswegen vermissen andere manchmal eine klare Richtung oder klare Ansage. Gefühlt wollen diese Menschen es jedem recht machen.

Die Eigenschaft, die hinter dieser Zuviel-Ausprägung steckt, ist wahrscheinlich eine Stärke auf der Beziehungsebene, ein hohes Maß an Empathie.

Beispiel 2: Du bist zu direkt.

Ein anderes häufiges Beispiel aus meinen Coachings ist:

“Du bist zu direkt.”

Diese Menschen überfahren andere mit ihrer Direktheit und wirken angriffslustig, egoistisch, gefühllos.

Hinter diesem “zu direkt” steht oft eigentlich eine große Klarheit, was sie brauchen und die Fähigkeit, deutlich zu kommunizieren, was sie von anderen Menschen erwarten.

Idee 2: Diese versteckte Stärke braucht eine balancierende Gegenkraft.

Nun geht es nicht darum, weniger von einer Eigenschaft zu zeigen, sondern dieser Eigenschaft einen positiven Gegenpol hinzuzufügen, um sie voll zu aktivieren. Die Frage ist:

“Welche positive Eigenschaft könnte dieses Zuviel von etwas in Balance bringen?”

Im Beispiel 1 könnte dies Klarheit sein:

… sich klarer sein, was man als Führungskraft erwartet, klarer auszudrücken, was man selber braucht, klarer auszudrücken, was man von anderen erwartet.

Im Beispiel 2 könnte dies Empathie sein:

… sich Gedanken machen, was der andere braucht, welche Perspektiven man noch einnehmen könnte, was für die Beziehung noch wichtig sein könnte.

Diese balancierenden Gegenkräfte entdecken wir gemeinsam im Coaching. Denn an Klarheit oder Empathie kann man besser arbeiten als an Zuviel- und Zuwenig-Themen.

Reflexions-Impuls:
Deine Stärken und Gegenkräfte

Vielleicht magst du jetzt selber überlegen, welche Stärken und Gegenkräfte für dich relevant sind. Nimm dir ein paar Minuten Zeit, um dir deine Stärken und Potenziale bewusst zu machen:

  • Was sind deine 3 wichtigsten Stärken?
    Wenn du dir unsicher bist, wo deine Stärken liegen oder wenn nach einer Antwort schon Schluss ist: Frag deine Freunde und andere Menschen, die dich gut kennen. Sie können es dir bestimmt sagen. Diese Stärken sind oft unser Fundament und lassen sich meist auch gut für Balance-Akte nutzen. :-)
  • Was machst du zu viel oder zu wenig?
    Was sind Eigenschaften, die dich manchmal nicht weiterkommen lassen? Was sind Dinge, die andere oder auch du manchmal als Schwäche im Sinne von zu viel oder zu wenig betrachtest?
  • Welche verdeckten Stärken liegen dahinter verborgen?
    Was kannst du jetzt schon dahinter entdecken? Was liegt als Rohdiamant verborgen? Sind es einige deiner wichtigsten Stärken? Oder andere Stärken, denen du dir noch nicht bewusst warst?
  • Was könntest du konkret tun, damit du diese versteckten Stärken in Balance bringst?
    • Welcher Gegenpol könnte nützlich sein?
    • Welche Stärke kannst du dafür nutzen?
    • Welche Fähigkeit möchtest du noch entwickeln, um diese Gegenkraft zu aktivieren?

Vielleicht hast du eine Freundin oder einen Freund mit einer komplementären Fähigkeit, die deine eigene Stärke ergänzen könnte? Jemand, der zu nett ist, schätzt vielleicht einen Freund, der besonders klar ist in dem, was er für sich selbst braucht und von anderen erwartet.

Beide Menschen können sich gegenseitig befruchten, indem sie sich Klarheit schenken und sich gegenseitig helfen, mehr in die Empathie zu kommen und andere Sichtweisen wahrzunehmen.

Diese Übung kannst du als Führungskraft auch für deine MitarbeiterInnen machen:

  • Kennst du die Stärken deiner MitarbeiterInnen?
  • Setzt du diese Stärken schon bewusst ein?
  • Wie kannst du die Fähigkeiten deiner MitarbeiterInnen bewusst miteinander kombinieren, damit sie sich gegenseitig befruchten?

Diese Gedankenübung bringt Klarheit und Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten. Sie gibt Orientierung, wie wir unsere Stärken noch bewusster leben können. Und sie stiftet Zuversicht, dass wir dies Schritt für Schritt wahr werden lassen können.

Ich wünsche dir viel Freude und Erkenntnisgewinn beim Reflektieren!